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% Minimale Theorien und Kitchers Vereinheitlichungstheorie % Nathan Gass % 30. April 2010

Kitcher identifiziert zwei Hauptansätze, um die Probleme von Hempels covering-law-Modell der Erklärung zu lösen. In einem Ansatz wird auf den Begriff der Kausalität zurückgegriffen, im anderen auf den Begriff der Vereinheitlichung \citep[S.419, S.430]{kitcher1989}. Im ersten Ansatz ergibt sich eine sehr einfache Lösung zweier wichtiger Probleme Hempels, nämlich des Problems der Asymmetrie und des Problems der irrelevanten Faktoren. Allerdings handelt man sich damit laut \citet[S.460]{kitcher1989} den epistemisch problematischen Begriff der Kausalität ein. Im zweiten Fall muss man nicht auf epistemisch problematische Konzepte zurückgreifen, hat aber vorerst einige Mühe, die Probleme der Asymmetrie und der irrelevanten Faktoren angemessen zu behandeln \citep[S.420, S.459]{kitcher1989}.

Kitcher selbst bevorzugt den zweiten Weg. Er will also auf den Rückgriff auf Kausalität verzichten und aufzeigen, wie die Probleme der Asymmetrie und der irrelevanten Faktoren durch das Konzept der Vereinheitlichung gelöst werden können \citep[S.430]{kitcher1989}. Kitcher vermutet jedoch einen engen Zusammenhang zwischen Vereinheitlichung und Kausalität. Er denkt, dass sein Programm der Erklärung durch Vereinheitlichung zur Kenntnis der kausalen Abhängigkeiten der Welt führt \citep[S.500]{kitcher1989}. An einer früheren Stelle erwähnt er eine Möglichkeit, wie dies aussehen könnte, auf die ich mich in meiner Arbeit konzentrieren will:

For those who inherit Hume's theses about causation (either his positive or his negative views) there are obvious attractions in seeking an account of explanation that does not take any causal concept for granted. A successful analysis of explanation might be used directly to offer an analysis of causation -- most simply, by proposing that one event is causally dependent on another just in case there is an explanation of the former that includes a description of the latter. \citep[S.420]{kitcher1989}

In meiner Bachelorarbeit werde ich untersuchen, wie eine Regularitätstheorie der Kausalität nach diesem direkten Ansatz aussehen muss. Es ist wichtig, die folgenden zwei Fragen zu unterscheiden, die sich direkt an dieses Vorhaben stellen:

  1. Wird in einer kausalen Welt die kausale Struktur tatsächlich durch die am besten vereinheitlichte Theorie erfasst?

  2. Wie sieht eine von der Vereinheitlichungstheorie abgeleitete Regularitätstheorie der Kausalität in dem Fall aus?

Ich werde voraussetzen, dass die erste Frage mit Ja zu beantworten ist, ohne diese Voraussetzung mit Argumenten zu stützen. Das heisst, ich werde davon ausgehen, dass die am stärksten vereinheitlichte Theorie der Welt sämtliche tatsächlich kausal erklärbaren Ereignisse durch die Angabe eines hinreichenden Bündels von Ereignissen erklärt, nämlich dem tatsächlichen Ursachenbündel des zu erklärenden Ereignisses.

Mit Hilfe dieser Voraussetzung will ich für die zweite Frage folgende These prüfen:

Die Kausaltheorie der minimalen Theorien, wie sie in \citet[Kapitel 5]{baumgartner2004} beschrieben wird, kann aus Kitchers Vereinheitlichungstheorie abgeleitet werden, indem Ursachen mit erklärenden Ereignissen gleichgesetzt werden.

Kitcher definiert Erklärung relativ zu einem gesamten Wissensschatz $K$. Ein Argument ist nach Kitcher eine Erklärung, wenn es zur besten Systematisierung $E(K)$ von $K$ gehört. Eine Systematisierung $D$ von $K$ definiert er dabei als eine Menge von Ableitungen in $K$. Die beste Systematisierung $E(K)$ von $K$ ist diejenige, die die grösste Vereinheitlichung erzielt. Der Grad der Vereinheitlichung einer beliebigen Systematisierung $D$ hängt dabei ausschliesslich von einer Klassifikation der Ableitungen in $D$ in verschiedene so genannte Argumentmuster (argument patterns) ab.

Da Kitcher Argumentmuster zählt, muss er verhindern, dass man beliebig Argumentmuster kombinieren kann. Er erreicht dies, indem er die in Argumentmuster verwendbaren Prädikate einschränkt auf solche, die er projizierbar nennt \citep[S.482]{kitcher1989}. Diese Einschränkung Kitchers steht in einem engen Zusammenhang mit einer Einschränkung an Ereignistypen, die \citet[S.38--39]{baumgartner2004} vornehmen. Dort werden Ereignistypen auf solche Klassen von Ereignissen eingeschränkt, die sich durch eine oder mehrere gemeinsame Eigenschaften auszeichnen.

Die Instanzen von Argumentmuster sind deduktive Argumente. Kitcher verteidigt diese Idealisierung, die er deductive chauvinism nennt, gegen verschiedene Vorwürfe \citep[S.448]{kitcher1989}. Insbesondere können statistische Argumente nach Kitcher nur dann erklärend sein, wenn sie als Hinweis auf ein zugrunde liegendes unbekanntes deduktives Argument aufgefasst werden \citep[S.449]{kitcher1989}. Daraus folgt auch, dass aus Kitchers Vereinheitlichungstheorie keine probabilistische Kausaltheorie folgen kann.

Mit diesen beiden Forderungen Kitchers an Argumentmuster will ich zeigen, dass ein kausales Argumentmuster genau ein vollständiges Ursachenbündel einer bestimmten Wirkung enthalten muss. Das heisst, um Ereignisse kausal zu erklären, werden Argumentmuster analog zum folgenden Beispiel verwendet:

Jede funktionierende LED in einem geschlossenen Stromkreis mit genügend kleinem Widerstand, an dem eine Spannung mit der relativ zur LED richtigen Orientierung angeschlossen ist, leuchtet. In der Situation $\alpha$ sind diese Bedingungen erfüllt. Also tritt das Leuchten $\beta$ der LED in $\alpha$ auf.

Ein kausales Argumentmuster kann nicht weniger als ein vollständiges Ursachenbündel enthalten, weil sonst die zu erklärende Wirkung nicht mehr deduktiv folgt. Lässt man also im gegebenen kausalen Argumentmuster z.B. die Bedingung weg, dass die Spannung mit der richtigen Orientierung an die LED angeschlossen ist, so folgt die Konklusion $\beta$ nicht mehr deduktiv aus den Prämissen, sondern erhält nur noch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit. Es handelt sich damit nach Kitcher nicht mehr um ein eigentliches Argumentmuster, insbesondere da die zusätzliche Bedingung ja bekannt ist.

Ein kausales Argumentmuster kann nicht mehrere vollständige Ursachenbündel enthalten, weil sonst die Situation $\alpha$ nicht mehr durch projizierbare Prädikate beschreibbar ist. Eine LED kann auch leuchten, wenn Licht von einer externen Quelle in einem geeigneten Winkel auf die LED fällt. Lässt man Kitchers Bedingung der projizierbaren Prädikate weg, lassen sich diese beiden möglichen Ursachen in einem Argumentmuster zusammenzufassen, in dem $\alpha$ entweder unter die gegebene Beschreibung fallen muss, oder unter eine neue Beschreibung, in der Licht in einem geeigneten Winkel auf die LED fällt. Die in diesem neuen umfassenderen Argumentmuster benutzte Beschreibung von $\alpha$ ist jedoch nicht mehr projizierbar, und wird von Kitcher deshalb ausgeschlossen. Dies liegt daran, dass beliebige Disjunktionen von projizierbaren Prädikaten nach Kitcher im allgemeinen nicht mehr projizierbar sind \citep[vgl.][S.482, S.483, S.493]{kitcher1989}.

Nach Kitchers Theorie der Vereinheitlichung kann man also, in meiner Anwendung, die Anzahl der Ursachenbündel zählen und muss diese insgesamt minimieren. Daraus ergeben sich direkt folgende wichtige Forderung der Kausaltheorie der minimalen Theorien:

  1. Die alternativen Ursachenbündel einer bestimmten Wirkung müssen minimal notwendig sein \citep[S.104--106]{baumgartner2004}.

    Wären die alternativen Ursachenbündel nicht notwendig, blieben einige Instanzen der Wirkung nicht erklärt. Werden auf der anderen Seite mehr Ursachenbündel angegeben als notwendig, so werden mehr Argumentmuster verwendet als nötig und man erhält eine weniger vereinheitlichte Theorie.

  2. Das Kettenproblem wird gelöst, indem Faktorenverschränkungen immer kausal interpretiert werden \citep[vgl.][S.306]{baumgartner2004}.

    Kausalketten benötigen immer weniger Ursachenbündel als zu diesen Kausalketten äquivalente Epiphänomene. Faktorenverschränkungen kausal zu interpretieren, d.h. als Kausalketten und nicht als Epiphänomene, führt also wiederum zu einer besser vereinheitlichten Theorie.

Mit meinem Ansatz lässt sich also die von \citet[S.306]{baumgartner2004} vorgenommene, arbiträre Auflösung des Kettenproblems begründen. Sowohl durch diese Auflösung als auch durch die Minimalisierung der alternativen Ursachenbündel wird nämlich direkt eine Minimalisierung der verwendeten Argumentmuster erreicht, ohne die erklärbaren Ereignisse einzuschränken, und damit eine besser vereinheitlichte Theorie. Die entscheidende Erweiterung durch Kitchers Theorie ist der neue umfassende Ansatz, in dem die Anzahl der verschiedenen Ursachenbündel nicht nur relativ zu einer spezifischen Wirkung, sondern auch im gesamten kausalen Netz minimalisiert werden.

Die letzte wichtige Forderung der Kausaltheorie der minimalen Theorien, nämlich dass ein Ursachenbündel minimal hinreichend für die Wirkung sein muss \citep[S.103--104]{baumgartner2004}, folgt nicht direkt aus Kitchers Vereinheitlichungstheorie. Das heisst, Kitchers Vereinheitlichungstheorie macht vorerst keinen Unterschied zwischen einer minimalen Theorie $(ABX \vee U_2 \vee U_3 \vee Y) \Ra E$ und einer erweiterten, nicht mehr minimalen Theorie $(ABCX \vee U_2 \vee U_3 \vee Y) \Ra E$ (die hier verwendeten Notation ist in \citealt[S.106--108]{baumgartner2004} beschrieben). Unter der folgenden Voraussetzung lässt sich jedoch auch diese Forderung aus Kitchers Vereinheitlichungstheorie ableiten: Es gibt Instanzen des minimal hinreichenden Ursachenbündels $AB$, die nicht unter das verwendete, erweiterte Ursachenbündel $ABC$ fallen, und dessen Wirkung nicht mit einem anderen alternativen Ursachenbündel aus $U_2 \vee U_3 \vee ...$ der minimalen Theorie von $E$ erklärt werden kann. Die spezifische Instanz von $E$ darf also aus der Sicht der minimalen Theorie nicht überdeterminiert sein. In diesem Fall muss nämlich in der erweiterten Theorie ein zusätzliches Ursachenbündel $U'$ angenommen werden, um die auf diese Instanz folgende Wirkung $E$ zu erklären. Dies führt zu einer weniger vereinheitlichten Theorie, die damit abzulehnen ist.

Damit lassen sich alle drei konstitutiven Bedingungen an eine minimale Theorie aus Kitchers Vereinheitlichungstheorie ableiten. Geht man davon aus, dass die am besten vereinheitlichte Theorie Ereignisse kausal erklärt, d.h. unter Rückgriff auf Ursachen, die für das zu erklärende Ereignis hinreichend sind, so folgen diese Bedingungen aus Kitchers Erläuterungen über den Begriff der Vereinheitlichung. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich Vorteile für beide Theorien. Kitchers Behauptung, dass sich die kausale Struktur der Welt aus seiner Vereinheitlichungstheorie der Erklärung ergibt, kann präzisiert und damit auch überprüft werden. Diskussionen über gemeinsame Probleme und Lösungsansätze können auf die jeweils andere Theorie übertragen werden. Dies gilt insbesondere für gewisse Probleme durch formale Trivialisierungen und deren Lösung durch den Begriff der projizierbaren Prädikate, respektive der gemeinsamen Eigenschaften. Nicht zuletzt werden die Forderungen der minimalen Notwendigkeit und der kausalen Interpretation von Faktorenverschränkungen, die in der Kausaltheorie der minimalen Theorien voneinander unabhängig sind, auf ein gemeinsames Prinzip zurückgeführt.

\bibliography{literatur}